…lesen Sie nicht zwingend die Packungsbeilage…

„Ich habe das Mittel gar nicht eingenommen!“ Die Patientin sass mir mit betont verschränkten Armen und leicht angespanntem Kiefer gegenüber und beantwortete damit meine Frage, wie es ihr nach Einnahme des homöopathischen Arzneimittels, welches ich ihr für ihre Hautprobleme verschrieben hatte, ergangen sei. Dasselbe hatte ich von einer anderen Patientin auch schon gehört, damals allerdings begleitet von einem freudigen Lächeln und der Erklärung: „Das Gespräch mit Ihnen hat mir bereits so gut getan, ich brauchte gar nichts mehr nehmen.“
Mit dieser Erklärung war bei den zusammengepressten, sehr unlächelnden Lippen meiner jetzigen Patientin wohl nicht zu rechnen. „Ich bat die Drogerie, mir zu sagen, was dieses Mittel denn überhaupt bewirken soll und sie haben mir einen Ausdruck des Arzneimittelbeschriebs gegeben.“
Hoppla. Dies erklärte die abweisende Körperhaltung meiner Patientin natürlich vollständig. Ich konnte mir in etwa vorstellen, wie dieser Text gelautet haben musste:

Arzneimittelbeschreibung_zerknuellt


„… ist vorrangig ein Mittel bei geistiger oder körperlicher Entwicklungsverzögerung oder Retardierung. Die Personen, die dieses Mittel benötigen, fühlen sich unsicher und wertlos. […] körperlich und geistig unreif, abgemagert und schwach. Sie haben häufig einen dümmlichen Gesichtsausdruck. […] Nägelkauen und Schweissfüsse.“
(1)

Trotz des Schmollmunds meiner Patientin, war der Gesichtsausdruck weit entfernt von dümmlich. Sie war weder körperlich noch geistig zurückgeblieben und Schweissfüsse konnte ich auch keine riechen. Niemand in ihrer Familie oder ihrem Bekanntenkreis hätte sie wohl als unreif, geschweige denn retardiert bezeichnet. Sie war eine bodenständige Frau, welche die Verantwortung für ihre Familie vorbildlich wahrnahm.
Ganz ehrlich? An ihrer Stelle hätte ich das Mittel auch nicht genommen.

Warum also verschreibe ich ihr etwas, was laut Drogerie-Ausdruck so offensichtlich nicht mit ihr übereinstimmt?
Solche Ausdrucke oder auch Beschriebe im Internet decken einen sehr beschränkten Bereich eines Arzneimittels ab. Es wird der Extremfall beschrieben. Sich dadurch ein adäquates, differenziertes Bild zu machen, ist schwierig. Gerade wenn man die Gemütssymptome liest, kann dies wie im Falle meiner Patientin recht beleidigend wirken. Positive Eigenschaften findet man kaum in diesen Texten, da sie schliesslich auch einen kranken und somit negativen Zustand beschreiben.

Kompensation und Eskalation

Um zu verstehen, wie solche Arzneimittelbilder zu lesen sind, muss man unter anderem verstehen, wie sich ein Mensch entwickelt:
Ein Kind wird mit gewissen Veranlagungen geboren. Es zeigt daraus entstehende Verhaltensweisen und Eigenschaften. Während es aufwächst, merkt es, welche Verhaltensweisen akzeptiert sind und welche bei den Mitmenschen nicht so gut ankommen Es passt sich an. Es beginnt, sein Verhalten zu kontrollieren und seine ‚Schwächen’ (was die Gesellschaft als solche empfindet) zu kompensieren. Die Veranlagungen dazu aber bleiben bestehen und wirken im Verborgenen weiter. An die Oberfläche kommen sie vor allem in den Ängsten und Träumen des nun Erwachsenen. Wenn ein Kind allerdings gar nichts kontrolliert, passiert das Gegenteil: Die Schwächen eskalieren.

In meiner Praxis treffe ich sowohl Leute, die sich angemessen angepasst haben, aber auch solche, die überkompensieren und andere, welche eskalieren. Das ganze Spektrum also. Je weiter eine Person eskaliert ist, desto ähnlicher ist sie dem Arzneimittelbild, weil dieses eben das Extrem beschreibt. Je kompensierter jemand ist, desto schwieriger wird es, die Person in dem Arzneimittelbild zu erkennen. Ein genaues Studium sowohl des Arzneimittels als auch des Patienten ist also entscheidend.

Im Falle der obenstehenden Patientin kam bei der Fallaufnahme an die Oberfläche, dass sie eine tiefe Unfähigkeit spürte, Verantwortung zu übernehmen. Und dies ist ein wichtiger Aspekt des verschriebenen Arzneimittels. Gerne hätte sie jemanden gehabt, der die Entscheidungen für sie trifft und dem sie somit alle Verantwortung überlassen konnte. Da dies in unserem Kulturkreis – seit spätestens dem Frauenstimmrecht – aber inakzeptables Verhalten ist, hatte sie gelernt, damit umzugehen. Sie übernahm sogar sehr viel Verantwortung in ihrer Familie. Sie kompensierte. Das Gefühl der Unfähigkeit blieb allerdings. Die Verantwortung überforderte sie unbewusst kontinuierlich und machte sie schlussendlich krank. Hätte sie im Gegenteil ihrer Veranlagung total nachgegeben und sie somit eskalieren lassen, würden wir sie heute vielleicht als unreif empfinden und sie würde mit der Zeit einen dümmlichen Gesichtsausdruck annehmen.

So ähnlich habe ich es auch meiner Patientin erklärt – unter Auslassung des letzten Satzes. Sie war danach bereit, das Mittel einzunehmen. Es hat ihr über die nächsten Monate geholfen, Verantwortung als weniger überfordernd wahrzunehmen und somit verbesserte sich ihre Gemütslage und auch ihre Hautsymptome, welche Ausdruck der tieferen Unstimmigkeit waren.

Dass Leute über ihr Arzneimittel nachlesen und dann verunsichert sind, ist einer der Gründe, weshalb viele Homöopathinnen den Patienten ihre Verschreibung nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt verraten wollen. Falls Ihnen Ihr Homöopath, wie ich, den Arzneimittelnamen sagt und Sie etwas darüber lesen, was Ihnen nicht gefällt, sprechen Sie Ihren Therapeuten darauf an. Er wird seine guten Gründe gehabt haben, weshalb er genau dieses Mittel für Sie gewählt hat. Und wenn er Sie nicht für zurückgeblieben hält, wird er seine Einschätzung auch mit Ihnen teilen…

Quellen

(1)Auszüge aus den Websites http://www.cysticus.de/klassische-homoeopathie/barium-carbonicum.htm (2016) und http://www.apotheke-homoeopathie.de/mittel/barium-carbonicum (2016)